Almut Krämer verließ das Hotel, trat auf die Straße und blickte sich um. Solange sie sich in Berlin aufhielt, musste sie auf der Hut sein.
Sie winkte ein Taxi heran und stieg ein. Die ganze Fahrt über saß sie wie auf heißen Kohlen, jederzeit bereit, aus dem Wagen zu springen und den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen. Doch der Verkehr floss ruhig dahin und als das Taxi vor dem Hauptbahnhof hielt, hatte sie noch fünfzehn Minuten bis zur Abfahrt.
Sie gab dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld. In der Halle war es stickig und zu warm. Sie lockerte das blaue Seidentuch und öffnete ihren Mantel.
Rasch warf sie einen Blick zur Anzeigentafel. Ihr Zug würde pünktlich abfahren. Ein gutes Zeichen.
Drei Tage hatte sie in der Stadt verbracht. Zahlreiche Seminare und Vorträge waren der beste Schutz vor unliebsamen Erinnerungen gewesen. Dann hatte sie die Nachricht vom Brand erreicht.
Noch zwölf Minuten bis zur Abfahrt. Die Rolltreppe trug sie zur nächsthöheren Ebene. Durch das gläserne Dach sah sie für einen kurzen Moment den Himmel und sehnte sich nach Weite.
Gleich nach der Ankunft hatte sie einen Spaziergang durch Mitte gemacht. Weiter hatte sie sich nicht getraut. Das war ihre wichtigste Regel gewesen. Auf keinen Fall bekannte Orte aufsuchen.
In ihrem Kopf die Topografie der Vorwendezeit. Sie bildete sich ein, eine fremde Stadt zu besuchen. Wie ein Kind, das die Hände vor die Augen legt, hatte sie gehofft, unsichtbar zu werden. Bisher hatte es funktioniert. Doch sie traute dem Frieden nicht.
Noch zehn Minuten.
Ihr Schutzschild aus Regeln hatte die alten Bilder unter Kontrolle gehalten. Sie spürte, wie dieser Schild zu bröckeln begann.
Hinter einem bunten Berliner Bären entdeckte sie einen Kiosk. Sogar Die Zeit brachte einen Bericht über den Brand im Flüchtlingsheim und das mutige Mädchen von Neustadt. An der Kasse musste sie anstehen und befürchtete schon, ihren Zug zu verpassen. Sie jagte die Treppe zum Bahnsteig hoch. Noch vier Minuten bis zur Abfahrt.
Am gläsernen Geländer fand sie ein freies Fleckchen. Dort, wo keiner stehen will, weil es dahinter in den Abgrund geht, dachte sie. Ihr machte es nichts aus. Wenn sie nur endlich rauskam aus dieser Stadt, in der sie die dunklen Tage erlebt hatte. Seither waren mehr als fünfundzwanzig Jahre vergangen. Doch ihr Fluchtimpuls war unvermindert stark.
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„Die Andere“. Roman
Marta Press, Hamburg 2015
ISBN: 978-3-944442-36-5
Aktuelle Lesungstermine: FB Ilka Haederle Autorin www.facebook.com/Ilka-Haederle-Autorin