Dienstanweisung

Am ersten Arbeitstag nach den Ferien betrat Karl-Heinz Klöppel sein Büro früher als gewöhnlich. Er hatte schlecht geschlafen und fühlte sich matt und zerschlagen. Die Reise mit der Familie hatte ihn mitgenommen. So war es jedes Jahr. Zuerst freute er sich auf die Zeit mit den Kindern, aber dann wurden ihm ihre lärmende Anwesenheit und die ständigen Ausflüge schnell lästig. Er stellte die Aktentasche auf einen Stuhl und hängte sein Jackett über den Bügel. Dabei fiel sein Blick durch das Fenster und blieb am nebligen Septembermorgen hängen, der aus den Bäumen im Stadtpark aufstieg. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Der Bildschirmschoner zeigte eine Alpenlandschaft. Er mochte die Berge lieber als das Meer. Aber seit es die Kinder gab, fuhren sie nicht mehr in die Berge.

Er warf einen kurzen Blick auf die Akten, die sich vor ihm auftürmten und unterdrückte ein Gähnen. Eigentlich sollte man gar nicht erst in Urlaub fahren, dachte er. Danach hatte man immer die doppelte Arbeit. Da fiel ihm ein, dass er den Kaffee vergessen hatte. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt weit und spähte den blank gebohnerten Flur hinunter. Er verspürte wenig Lust, schon am frühen Morgen Urlaubserlebnisse mit den Kollegen auszutauschen. Er warf ein Geldstück in den Automaten und wartete darauf, dass sich das hellbraune Rinnsal im Plastikbecher sammelte. Er dachte an die Tage und Wochen, die nun wieder vor ihm lagen wie ein breiter Fluss, der ganz ohne sein Zutun in einen Urlaub münden würde. Noch bevor das Signal ertönte, zog er den Becher aus der Halterung und kehrte in sein Büro zurück. Nach dem ersten Schluck fühlte er sich besser. Anträge bestanden am Ende nur aus bedrucktem Papier. Damit wurde man fertig. Es waren die Fotos, die ihm zusetzten. Die unterwürfigen Blicke, gemischt mit einer absurden Hoffnung, die ihm Tag für Tag entgegen schlugen, waren nur schwer zu ertragen. Er verabscheute die Akten, mit dem man ihm die Verantwortung für das Leben wildfremder Menschen aufbürdete. Manchmal beneidete er den Amtsfotografen um die Distanz, mit der er das Objektiv auf sein Gegenüber richtete. Er hingegen musste sich mit der Geschichte befassen, die hinter den Gesichtern lag. (…)

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„Dienstanweisung“ wurde neu aufgelegt u.a in:

Grenzenlos 1 ein literarisch engagiertes europabrevier

andiamo verlag, Mannheim 2013

ISBN: 978-3-936625189